Betrachtungen zum Selfie

Seit einiger Zeit beschäftige ich mich gedanklich mit den sogenannten „Selfies“. Ein Selfie – und ich hörte diesen Ausdruck vor drei Monaten zum ersten Mal – ist ein Foto, das man selber von sich macht. Vorzugsweise mit dem Smartphone; geht auch mit dem Computer und der Webcam (mit einem normalen Fotoapparat hab ich das noch nie gesehen.., aber ich weiß es nicht genau..). Auch ich habe bereits Selfie-Erfahrung, wobei ich mir dabei noch schwer tue und mir ein bisschen blöd vorkomme. Eigentlich weniger blöd, sondern eher a bissi jämmerlich 🙂 Fotograf und Motiv gleichzeitig! Objekt und Subjekt gleichzeitig! Sehr verwirrend.

Es gibt vermutlich unterschiedliche Gründe, warum man ein Selfie macht:

  • Man hätte gerne ein Foto von sich, es fotografiert einen aber keiner
  • Man braucht schnell ein Foto von sich für ein Bewerbungsschreiben
  • Man braucht ein Foto von sich für Facebook (oder andere soz. Netzwerke)
  • Man will die Faltentiefe aus einer objektiven Perspektive betrachten
  • Man ist in sich selbst … verliebt?

.. womit wir bei dem nun folgenden Artikel aus orf.science angekommen wären. Darin kommt der Psychologe Paul Verhaeghe zu Wort. Seine Ausführungen zum Thema Selfie sind sehr aufschlussreich. Da nehme ich mich gleich selbst bei der Nase.. Ein paar von Frau Gscheits Selfies finden Sie unten.

Nun aber zum Artikel:

„Einsame Inseln mit Selfies und Angst“

Konkurrenzdenken, Individualismus und narzisstische Selfie-Kultur: Der belgische Psychologe Paul Verhaeghe stellt dem Menschen der Gegenwart kein besonders gutes Zeugnis aus. Als Ursache ortet er das Diktat der Wirtschaft, das auch die Psyche ökonomisiert. 

„Wir sind wie kleine Inseln, auf denen wir mit unseren Selfies einsam leben und Angst vor anderen Menschen haben“, sagte er in einem Interview anlässlich einer Konferenz am Wochenende im Wiener Sigmund Freud Museum.

science.ORF.at: Seit einigen Jahren werden soziale Netzwerke von sogenannten „Selfies“ beinahe überflutet. Sie arbeiten als Psychologe und Psychoanalytiker. Was hätte Sigmund Freud zu der gegenwärtigen „Selfie-Kultur“ gesagt?

Paul Verhaeghe: Das ist schwer zu sagen: Freud lebte in einer völlig anderen Zeit, die von Kollektivismus und Anpassung geprägt war. Heute leben wir in einer individualisierten Gesellschaft. Aus der Perspektive des viktorianischen Zeitgeistes aus betrachtet, wäre die „Selfie-Kultur“ wohl höchst pathologisch.

Neben den Selfies sind auch Selbstoptimierungsprogramme hoch im Kurs. Leiden wir an einer „Selbstoptimierungskrankheit“?

Die Idee der Selbstperfektion hat es immer schon gegeben. In der Vergangenheit war die Vorstellung von Perfektion und Heil auf das Jenseits verschoben. Heute wachsen Menschen mit der Illusion auf, dass jeder perfekt sein kann, jeder alles haben und machen kann, wenn nur die richtigen Entscheidungen getroffen werden. Sie wollen den Himmel auf Erden erschaffen.

Karl Popper meinte einmal, „der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, produziert stets die Hölle“.

Ja, das ist die Schattenseite davon. Denn wer scheitert, ist selbst schuld, muss sich schämen und durchlebt die emotionale Hölle auf Erden: Aggression, Selbstzerstörung, Depression und die damit einhergehenden Störungsbilder. Das Selfie ist ein Teil dieser Kultur: Schau, wie perfekt ich bin, wie schön, was ich alles mache, ich stehe auf der Spitze des Kilimandscharo …

Im Sommer verunglückte ein Paar bei dem Versuch, ein Selfie am Rande einer Klippe anzufertigen. Sie stürzten ab und konnten nur noch tot geborgen werden. Die Konferenz, auf der Sie in Wien sprechen, dreht sich um das Thema „Narzissmus und Krieg“. Wie eng stehen Narzissmus und Tod miteinander in Beziehung?

Mythen verweisen in beeindruckender Weise auf psychologische Wahrheiten. Im Mythos des Narziss stirbt der Jüngling, da er so eingenommen von seinem Spiegelbild ist. Vor allem der so genannte primäre Narzissmus beinhaltet Elemente von Aggression, die zum Selbstmord oder Mord führen können. Aus dieser Perspektive ist es sehr ironisch, dass das Paar stirbt, während es etwas sehr Narzisstisches macht. Andererseits hinkt das Beispiel, es ist kein wirkliches Selfie, es handelt sich ja um ein Paar.

Auf den Zusammenhang zwischen Kultur und individueller Psyche wurde oft hingewiesen. Erich Fromm etwa prägte den Ausdruck „Gesellschaftscharakter“, der die Charakterstruktur der einzelnen Menschen hinsichtlich sozial angepassten Verhaltens beschreibt. Wie sieht der aktuelle Gesellschaftscharakter aus?

Das ist eine Frage, die ich mit einem Schwarz-Weiß-Muster beantworten muss, auch wenn das normal nicht mein Denkstil ist. Im neoliberalen Gesellschaftsmodell muss der Mensch erfolgreich sein, er muss Leistung bringen – Leistung, die mit Zahlen messbar ist. Er muss ein Gewinner sein, der dann alles erhält. Dem Gewinner steht ein Verlierer gegenüber. Die Verlierer werden jedoch nicht aufgefangen, da das soziale Netz, aber auch die Mittelschicht zunehmend verschwindet. Letztendlich entpuppt sich dieses Modell als eine neue Spielart des Sozialdarwinismus.

In Ländern, die eine neoliberale Politik verfolgen, kommt es letztendlich zu einer zunehmenden Ungleichheit und Polarisierung innerhalb der Gesellschaft, mit den dazugehörenden Problemen, die von Richard Wilkinson und Kate Picket beschrieben wurden.

Um was geht es dabei?

Wilkinson und Picket haben den Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Ungleichheit und psychosozialen Indikatoren untersucht, auf deren Grundlage eine Gesellschaft als eher gesund bzw. als eher krank beurteilt werden kann. Sie fanden, dass je ungleicher die Einkommens- und Chancenverteilung einer Gesellschaft ist, desto höher sind Selbstmordrate, Drogenmissbrauch, Gewalt und die Anzahl der Kinder, die bereits Psychopharmaka nehmen. Aber auch die generelle Lebenserwartung, die Bildung und die soziale Mobilität seien davon abhängig.

Gilt das auch für die obere gesellschaftliche Schicht?

Die Ausprägung dieser negativen Indikatoren ist unabhängig von der sozialen Schichtzugehörigkeit. Das bedeutet: Höhere Einkommensungleichheit hat negative Folgen für jedermann, nicht nur für die unteren Schichten. Eine gesunde Gesellschaft ist durch einen hohen Grad an Differenzierung gekennzeichnet: Es gibt verschiedene Gruppen und Schichten, soziale Mobilität ist möglich. Im Moment steuern wir auf eine stark polarisierte Gesellschaft zu: reich/arm, Gewinner/Verlierer, oben/unten. Dabei versteinern soziale Schichten, und demokratische Strukturen werden unterwandert.

Die Dinge, von denen Sie sprechen, erinnern an das Werk von Erich Fromm „Wege aus einer kranken Gesellschaft“. In der Einleitung verweist er auf die Paradoxie, dass wir in einem noch nie dagewesenen materiellen Wohlstand leben, in dem gleichzeitig eine enorme Anzahl an psychischen Krankheiten bestehen. Inwiefern knüpfen Sie an diese Überlegungen an?

Mein Buch „Und Ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft“ ist bereits öfters mit jenem von Fromm verglichen worden. Das ist eine Ehre für mich. Dennoch gibt es große Unterschiede: Fromm beschrieb in den 50ern eine Gesellschaft, die von Kollektivismus und Anpassung geprägt war; heute leben wir in exakt der gegenteiligen Gesellschaft. Das Pendel schlug in das andere Extrem. Die Effekte, wie zum Beispiel die Zahl von Suchtkrankheiten oder Selbstmorden, sind jedoch die gleichen geblieben.

Können Sie das genauer erklären?

Unsere Identität bildet sich auf Grundlage zweier zentraler Prozesse. Auf der einen Seite ist der Mensch ein soziales Wesen, das gemeinschaftlich orientiert ist. Wir werden jemand, da wir uns mit etwas identifizieren und damit Gruppen und Gemeinschaften bilden. Der andere Prozess ist jener der Separation, er führt zu Unterschieden zwischen den einzelnen Menschen. Das herrschende Gesellschaftsmodell bestimmt, welche Strebung gefördert wird: Gemeinschaft und Teilen oder Individualismus und Nehmen. Beide sind jedoch wichtig.

Erich Fromm beschrieb eine Gesellschaft, die ihren Schwerpunkt auf Identifikation legte. Eine Autonomieentwicklung wurde enorm erschwert. Die Folgen, die das für die Psyche der Einzelnen hatte, hat Fromm eindrucksvoll beschrieben.

Heute schlägt das Pendel in die andere Richtung: Es geht nur mehr um Individualismus und Separation. Wir sind wie kleine Inseln, auf denen wir mit unseren Selfies einsam leben und Angst vor anderen Menschen haben. Die Einsamkeit ist eine der großen gesellschaftlichen Hauptprobleme unserer modernen Kultur.

In Ihrem Buch sprechen Sie davon, dass der Neoliberalismus bereits jeden Lebensbereich durchdringt und unser Selbstverständnis negativ prägt, da es gegen die soziale Seite des Menschen verstößt. Ist es möglich, dass Sie diesen Einfluss überbewerten?

Nein, das denke ich nicht. Es ist deutlich beobachtbar, wie sich das neoliberale Denken seit den 90er Jahren in den USA entwickelte und bereits auch in Europa verschiedene Lebensbereiche durchdringt: den Haushalt, die Erziehung, die Schulen, Universitäten und das Gesundheitswesen. Wir leben in einer durchökonomisierten Welt, in der soziale Institutionen im Schwinden begriffen sind. Zunehmend scheint das Motto zu sein: win or lose and die.

Woher kommt das?

Ich habe diese Entwicklung anhand des Energiekonzerns Enron beschrieben: Es ging darum, die Produktivität zu steigern, was an sich keine schlechte Idee ist. Die Art und Weise jedoch, wie das bei Enron geschah, war ethisch höchst fraglich: Das Unternehmen begann damals das „Rank and Yank System“ einzuführen. Der Output eines jeden Beschäftigten wurde gemessen, gereiht und mit dem Output anderer verglichen. Am Ende des Jahres wurden die unteren 20 Prozent gefeuert. Nicht weil sie schlechte Arbeit leisteten, sondern einfach weil sie am Ende der Liste standen.

Inzwischen wurde dieses Bewertungssystem überall eingeführt, zum Beispiel an den Universitäten. Das zwingt zu Quantität vor Qualität: publish or perish. Zwar hat Wettbewerb auch seine guten Seiten; nicht jedoch, wenn er tödlich wird.

Was wären Alternativen?

Ich habe die Metapher eines Pendels verwendet. Die beste Position ist jene in der Mitte zwischen den Polen Gemeinschaft und Individualismus. Im Moment mangelt es der Gesellschaft am Sinn für Gemeinschaft. Spannend ist, dass es in den letzten Jahren zu einer Veränderung von unten gekommen ist. Junge Menschen bilden Projektgruppen und Gemeinschaften, die sich verschiedenen Themen wie Lebensmittel, Energie oder Gesundheit widmen. Es ist, als wie wenn Gesellschaft neu erfunden würde. Darin sehe ich eine große Chance.

Quelle: ORF ScienceInterview mit Paul Verhaeghe von
Aaron Salzer
 
Zur Person:
Paul Verhaeghe hat eine Ausbildung als klinischer Psychologe und als Psychoanalytiker absolviert. Er ist ordentlicher Universitätsprofessor an der Universität Gent, seit 2000 gilt sein Interesse vor allem dem Einfluss gesellschaftlicher Veränderungen auf psychologische und psychiatrische Störungen.
Am 17. und 18. Oktober 2014 fand im Freud Museum eine Internationale Konferenz zum Thema „Narzissmus und Krieg“ statt. Paul Verhaeghe war als Keynote Speaker geladen.
 
 

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