Eine wunderschöne Ballade von Friedrich Schiller.
Generationen von Gymnasiasten stöhnten unter der Aufgabe, sie auswendig zu lernen und würdevoll vorzutragen. Ich auch. Aber das Gedicht faszinierte mich. Ich wunderte mich ein bisschen über den ehrenvollen Damon, der sich bis zur Unendlichkeit abmühte, um den Treueschwur einzulösen, und nicht einfach das Weite suchte und ein schönes Leben irgendwo anders der Todesstrafe vorzog. Wir Schüler machten damals auch Witze und das Ende der zweiten Strophe modifizierten wir von „Ihn magst du, entrinn‘ ich, erwürgen“ zu „Ihn kannst Du ruhig erwürgen“. Dem einen oder anderen Schulkollegen rutschte dann auch prompt bei der Rezitation die falsche Zeile heraus..
Jetzt, wo ich darüber nachdenke, scheint mir, als sei „Ihn kannst Du ruhig erwürgen“ zum unausgesprochenen Leitmotiv der (westlichen) Gesellschaft geworden: Das eigene Wohl ist uns viel wichtiger als das der anderen, das Hemd näher als der Rock. Hungersnöte anderswo interessieren uns nicht, solange unser Kühlschränke voll sind. Die Pleite der anderen ruft in uns allenfalls Empörung hervor und wir sind allgemein der Meinung, dass sich verschuldete Länder gefälligst selbst einen Ausweg aus ihrem Dilemma suchen sollen, da sie es doch selbst verursacht haben. Die Konzentration auf den eigenen Vorteil, oft auf Kosten anderer, macht uns blind gegenüber immateriellen Werten wie Liebe, Treue und Vertrauen. Der allgemeine Vertrauensverlust wird von vielen Experten aber als ausschlaggebender Faktor für die Wirtschaftskrise einerseits und die vielen Aufstände und Unruhen andererseits betrachtet. Die Menschen vertrauen den Machthabern und deren Lippenbekenntnissen nicht mehr und auf Grund der Schwankungen der Finanzmärkte ändert sich auch die Einstellung zu Geld an sich – wird man mit seinem Erspartem in einem Jahr noch etwas Adäquates kaufen können?
Bürgschaft, für einander einstehen, sich auf jemand/etwas verlassen können scheinen in der schnelllebigen, von Konsum und Geld regierten Welt veraltete und überholte Werte zu sein. Angesichts des bereits erwähnten Vertrauensverlustes innerhalb der Gesellschaft jedoch bekommt diese Ballade und damit die Moral des Damon wieder Wichtigkeit. Verantwortung übernehmen und sich um den anderen sorgen – sei es nun ein Familienmitglied oder ein völlig Fremder – hat etwas mit Heldentum und Menschwerdung zu tun.
Altem Wissen zufolge wird der Mensch erst zum Mensch, sobald er akzeptiert, dass ihn die alleinige Sorge um sich selbst niemals weiterbringen wird. Die Bemühung und Verantwortung für den Mitmensch, gepaart mit einer ausbeutungsfreien Beziehung innerhalb der Gesellschaft, in der sich gute Taten nicht an Erwartungen oder Bedingungen knüpfen, seien der Schlüssel zum eigenen Wohlbefinden.
Der Tyrann sagt am Ende:
„Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn –
So nehmet auch mich zum Genossen an:
Ich sei, gewährt mir die Bitte,
In eurem Bunde der dritte!“
Für mich bedeutet das, dass die Dreiheit Mensch, Macht und Liebe im Idealfall eine Einheit darstellt.
Die Bürgschaft gelesen vom unvergesslichen Oskar Werner (und darunter zum Mitlesen):
Friedrich von Schiller, Die Bürgschaft, um 1798
Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Damon, den Dolch im Gewande:
Ihn schlugen die Häscher in Bande,
»Was wolltest du mit dem Dolche? sprich!«
Entgegnet ihm finster der Wüterich.
»Die Stadt vom Tyrannen befreien!«
»Das sollst du am Kreuze bereuen.«
»Ich bin«, spricht jener, »zu sterben bereit
Und bitte nicht um mein Leben:
Doch willst du Gnade mir geben,
Ich flehe dich um drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
Ich lasse den Freund dir als Bürgen,
Ihn magst du, entrinn‘ ich, erwürgen.«
Da lächelt der König mit arger List
Und spricht nach kurzem Bedenken:
»Drei Tage will ich dir schenken;
Doch wisse, wenn sie verstrichen, die Frist,
Eh‘ du zurück mir gegeben bist,
So muß er statt deiner erblassen,
Doch dir ist die Strafe erlassen.«
Und er kommt zum Freunde: »Der König gebeut,
Dass ich am Kreuz mit dem Leben
Bezahle das frevelnde Streben.
Doch will er mir gönnen drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
So bleib du dem König zum Pfande,
Bis ich komme zu lösen die Bande.«
Und schweigend umarmt ihn der treue Freund
Und liefert sich aus dem Tyrannen;
Der andere ziehet von dannen.
Und ehe das dritte Morgenrot scheint,
Hat er schnell mit dem Gatten die Schwester vereint,
Eilt heim mit sorgender Seele,
Damit er die Frist nicht verfehle.
Da gießt unendlicher Regen herab,
Von den Bergen stürzen die Quellen,
Und die Bäche, die Ströme schwellen.
Und er kommt ans Ufer mit wanderndem Stab,
Da reißet die Brücke der Strudel herab,
Und donnernd sprengen die Wogen
Des Gewölbes krachenden Bogen.
Und trostlos irrt er an Ufers Rand:
Wie weit er auch spähet und blicket
Und die Stimme, die rufende, schicket.
Da stößet kein Nachen vom sicheren Strand,
Der ihn setze an das gewünschte Land,
Kein Schiffer lenket die Fähre,
Und der wilde Strom wird zum Meere.
Da sinkt er ans Ufer und weinet und fleht,
Die Hände zum Zeus erhoben:
»O hemme des Stromes Toben!
Es eilen die Stunden, im Mittag steht
Die Sonne, und wenn sie niedergeht
Und ich kann die Stadt nicht erreichen,
So muß der Freund mir erbleichen.«
Doch wachsend erneut sich des Stromes Wut,
Und Welle auf Welle zerrinnet,
Und Stunde an Stunde entrinnet.
Da treibt ihn die Angst, da fasst er sich Mut
Und wirft sich hinein in die brausende Flut
Und teilt mit gewaltigen Armen
Den Strom, und ein Gott hat Erbarmen.
Und gewinnt das Ufer und eilet fort
Und danket dem rettenden Gotte;
Da stürzet die raubende Rotte
Hervor aus des Waldes nächtlichem Ort,
Den Pfad ihm sperrend, und schnaubet Mord
Und hemmet des Wanderers Eile
Mit drohend geschwungener Keule.
»Was wollt ihr?« ruft er vor Schrecken bleich,
»Ich habe nichts als mein Leben,
Das muß ich dem Könige geben!«
Und entreißt die Keule dem nächsten gleich:
»Um des Freundes willen erbarmet euch!«
Und drei mit gewaltigen Streichen
Erlegt er, die andern entweichen.
Und die Sonne versendet glühenden Brand,
Und von der unendlichen Mühe
Ermattet sinken die Knie.
»O hast du mich gnädig aus Räuberhand,
Aus dem Strom mich gerettet ans heilige Land,
Und soll hier verschmachtend verderben,
Und der Freund mir, der liebende, sterben!«
Und horch! da sprudelt es silberhell,
Ganz nahe, wie rieselndes Rauschen,
Und stille hält er, zu lauschen;
Und sieh, aus dem Felsen, geschwätzig, schnell,
Springt murmelnd hervor ein lebendiger Quell,
Und freudig bückt er sich nieder
Und erfrischet die brennenden Glieder.
Und die Sonne blickt durch der Zweige Grün
Und malt auf den glänzenden Matten
Der Bäume gigantische Schatten;
Und zwei Wanderer sieht er die Straße ziehn,
Will eilenden Laufes vorüber fliehn,
Da hört er die Worte, sie sagen:
»Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen.«
Und die Angst beflügelt den eilenden Fuß,
Ihn jagen der Sorge Qualen;
Da schimmern in Abendrots Strahlen
Von ferne die Zinnen von Syrakus,
Und entgegen kommt ihm Philostratus,
Des Hauses redlicher Hüter,
Der erkennet entsetzt den Gebieter:
»Zurück! du rettest den Freund nicht mehr,
So rette das eigene Leben!
Den Tod erleidet er eben.
Von Stunde zu Stunde gewartet‘ er
Mit hoffender Seele der Wiederkehr,
Ihm konnte den mutigen Glauben
Der Hohn des Tyrannen nicht rauben.«
»Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht,
Ein Retter, willkommen erscheinen,
So soll mich der Tod ihm vereinen.
Des rühme der blut’ge Tyrann sich nicht,
Dass der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht,
Er schlachte der Opfer zweie
Und glaube an Liebe und Treue!«
Und die Sonne geht unter, da steht er am Tor,
Und sieht das Kreuz schon erhöhet,
Das die Menge gaffend umstehet;
An dem Seile schon zieht man den Freund empor,
Da zertrennt er gewaltig den dichten Chor:
»Mich, Henker«, ruft er, »erwürget!
Da bin ich, für den er gebürget!«
Und Erstaunen ergreifet das Volk umher,
In den Armen liegen sich beide
Und weinen vor Schmerzen und Freude.
Da sieht man kein Auge tränenleer,
Und zum Könige bringt man die Wundermär‘;
Der fühlt ein menschliches Rühren,
Lässt schnell vor den Thron sie führen,
Und blicket sie lange verwundert an.
Drauf spricht er: »Es ist euch gelungen,
Ihr habt das Herz mir bezwungen;
Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn –
So nehmet auch mich zum Genossen an:
Ich sei, gewährt mir die Bitte,
In eurem Bunde der dritte!«