Leseprobe 1 – „Was wir sind..“ – Wir sind auch keine Wettkämpfer

Gerald Hüther: Was wir sind und was wir sein könnten (4. Auflage). Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, März 2013, S80 ff

Wir sind auch keine Wettkämpfer
(…) Keine andere Vorstellung hat die Art und Weise unseres Zusammenlebens so stark geprägt und ist so tief in den Gehirnen der Menschen unserer modernen Industriegesellschaft verankert wie die Idee, dass der Wettbewerb die entscheidende Grundlage und wichtigste Voraussetzung für jede Weiterentwicklung sei. So haben wir Darwins Erkenntnisse über die Entstehung der Arten und die Evolution des Menschen interpretiert. So versuchen wir bis heute auf allen Ebenen unsere Zusammenlebens Bedingungen zu schaffen und aufrecht zu erhalten, die dafür sorgen, dass sich in allen Lebensbereichen diejenigen durchsetzen, die allen anderen überlegen sind. Wir erzeugen deshalb in unseren Bildungseinrichtungen, in Betrieben und Organisationen Leistungsdruck und Konkurrenz, um unter Berufung auf den Prozess der natürlichen Auslese als Motor der Evolution diejenigen auszulesen, die unter diesen Bedingungen Höchstleistungen erzielen. Und wir machen dabei alle andere zu Verlierern und sortieren all jene aus, die diese Leistungen nicht zu erfüllen im Stande oder willens sind. Wir glauben sogar, dass Menschen ohne diesen Konkurrenzdruck die in ihnen angelegten Potentiale gar nicht entfalten können.

Dabei müssten wir doch längst begriffen haben, dass Menschen unter Wettbewerbsdruck sich nicht weiter entwickeln und ihre Potentiale entfalten, sondern dass das, was durch das Schüren von Konkurrenz hervorgebracht wird, nur fortschreitende Spezialisierungen sind. Fachidioten und Leistungssportler kann man durch den Leistungsdruck erzeugen, aber nicht umfassend gebildete, vielseitig kompetente und umsichtige, vorausschauend denkende und verantwortlich handelnde, in sich ruhende, und starke beziehungsfähige Persönlichkeiten.

Solche Entwicklungen eines Menschen werden durch Konkurrenzdruck nicht ermöglicht oder begünstigt. Sie werden unter diesen Bedingungen verhindert. Wettbewerb erzeugt stromlinienförmige Angepasstheit. Nicht aber Komplexität und Beziehungsfähigkeit. Auch nicht im Gehirn.

Wie aber, so müssen wir uns jetzt fragen, war es möglich, dass sich in unseren Köpfen die Vorstellung verfestigen konnte, ohne Wettbewerb sei keine Weiterentwicklung möglich? Wie konnte es passieren, dass wir Spezialisierung mit Weiterentwicklung verwechselt haben. Auch hier ist die Antwort einfach: Es passte zu den Interessen, die wir bisher verfolgt haben. Und das waren in erster Linie die Interessen des Wirtschaftssystems, das unser Leben bisher bestimmt hat. Wir haben zugelassen und sogar aktiv dazu beigetragen, dass dieses Wirtschaftssystem auf diese Weise entwickeln konnte. Weil es und Vorteile verschaffte, weil es uns Möglichkeiten eröffnete, die uns ohne all das, was es hervorgebracht hat, verschlossen geblieben wären. Aber wozu haben wir diese Möglichkeiten genutzt? Um ein bequemes angepasstes Leben zu führen. Auf Kostenanderer, die in diesem inzwischen global gewordenen Wettbewerb auf der Strecke geblieben sind und die bereiten uns nun zunehmende Unbequemlichkeiten.

Auch in der Evolution ist der Wettbewerb weder Grundlage noch Voraussetzung für wirkliche Weiterentwicklung. Konkurrenz führt immer nur dazu, dass das was bereits entstanden ist, weiter spezialisiert wird. So entsteht durch Wettbewerb aus der Anlage einer fünfstrahligen Vorderextremität bei manchen Arten eine Flosse, bei anderen eine Grabschaufel, bei anderen ein Flügen und bei uns ebene eine Hand. Das sind aber nur unterschiedliche Spezialisierungen von etwas, das bereits da war. Also in diesem Fall die Anlage einer fünfstrahligen Vorderextremität. Wie die aber entstehen konnte, darüber gibt uns der Darwinismus keine Auskunft.

Nach einer Antwort auf diese eigentlich entscheidende Frage haben wir aber bisher auch gar nicht gesucht. Dazu hatten wir ja auch keine Veranlassung. Uns hat es interessiert, was sich aus der vorderen Extremität alles machen, wie sie sich für bestimmte Zwecke spezialisieren und nutzen ließ. Deshalb haben wir uns auch nicht um eine Klärung dieser Frage bemüht, wie im Verlauf der Evolution all das als Potential entsteht, was dann später durch den Wettbewerb in abstruseste Spezialisierungen getrieben wird. In Spezialisierungen, die ein Überleben der jeweiligen Spezies in immer engeren ökologischen Nischen ermöglichten, die aber diejenigen Arten, die durch ihre jeweiligen Spezialisierungen diese Nischen erfolgreich besetzen konnten, daran hinderten, sie jemals wieder zu verlassen. Ist es das, was wir durch das Anheizen des Wettbewerbs in unserer Gesellschaft erreichen wollen?

Wie lange könnte ein Gesamtorganismus, also Sie oder ich, wohl überleben, wenn seine Lunge mit der Leber, sein Darm mit dem Pankreas oder sein Hirn mit dem Herz in Konkurrenz darum stritten, wer die besseren Leistungen vollbringt? (…)

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