Ansprache zum Schulbeginn

Von Erich Kästner 
(1950 aus “Die Kleine Freiheit”)

Liebe Kinder, da sitzt ihr nun, alphabetisch oder nach der Größe 
sortiert, zum erstenmal auf diesen harten Bänken, und hoffentlich liegt
es nur an der Jahreszeit, wenn ihr mich an braune und blonde, zum Dörren
aufgefädelte Steinpilze erinnert. Statt an Glückspilze, wie sich’s 
eigentlich gehörte. Manche von euch rutschen unruhig hin und her, als 
säßen sie auf Herdplatten. Andere hocken wie angeleimt auf ihren
 Plätzen. Einige kichern, und der Rotkopf in der dritten Reihe
 starrt, Gänsehaut im Blick, auf die schwarze Wandtafel, als sähe er in
 eine sehr düstere Zukunft.

Euch ist banglich zumute, und man kann nicht sagen, daß euer Instinkt 
tröge. Eure Stunde X hat geschlagen. Die Familie gibt euch zögernd her
 und weiht euch dem Staate. Das Leben nach der Uhr beginnt, und es wird 
erst mit dem Leben selber aufhören. Das aus Ziffern und Paragraphen, 
Rangordnung und Stundenplan eng und enger sich spinnende Netz umgarnt 
nun auch euch. Seit ihr hier sitzt, gehört ihr zu einer bestimmten 
Klasse. Noch dazu zur untersten. Der Klassenkampf und die Jahre der 
Prüfungen stehen bevor. Früchtchen seid ihr, und Spalierobst müßt ihr
 werden! Aufgeweckt ward ihr bis heute, und einwecken wird man euch ab
 morgen! So, wie man’s mit uns getan hat. Vom Baum des Lebens in die
 Konservenfabrik der Zivilisation, – das ist der Weg, der vor euch liegt.
Kein Wunder, daß eure Verlegenheit größer ist als eure Neugierde.

Hat es den geringsten Sinn, euch auf einen solchen Weg Ratschläge 
mitzugeben? Ratschläge noch dazu von einem Manne, der, da half kein 
Sträuben, genau so „nach Büchse” schmeckt wie andere Leute auch? Laßt es 
ihn immerhin versuchen, und haltet ihm zugute, daß er nie vergessen hat, 
noch je vergessen wird, wie eigen ihm zumute war, als er selber zum 
ersten mal in der Schule saß. In jenem grauen, viel zu groß geratenen
Ankersteinbaukasten. Und wie es ihm damals das Herz abdrückte. Damit
 wären wir schon beim wichtigsten Rat angelangt, den ihr euch einprägen
 solltet wie den Spruch einer uralten Gedenktafel;

,,Laßt euch die Kindheit nicht austreiben!” Schaut, die meisten Menschen 
legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine 
Telefonnummer, die nicht mehr gilt. Ihr Leben kommt ihnen vor wie eine 
Dauerwurst die sie allmählich aufessen, und was gegessen worden ist,
 existiert nicht mehr. Man nötigt euch in der Schule eifrig von der
 Unter- über die Mittel- zur Oberstufe. Wenn ihr schließlich droben steht
 und balanciert, sägt man die „überflüssig” gewordenen Stufen hinter euch 
ab, und nun könnt ihr nicht mehr zurück!

Aber müßte man nicht in seinem 
Leben wie in einem Hause treppauf und treppab gehen können? Was soll die 
schönste erste Etage ohne Keller mit den duftenden Obstborden und ohne
 das Erdgeschoß mit der knarrenden Haustür und der scheppernden Klingel?
Nun – die meisten leben so! Sie stehen auf der obersten Stufe, ohne 
Treppe und ohne Haus, und machen sich wichtig. Früher waren sie Kinder, 
dann wurden sie Erwachsene, aber was sind sie nun? Nur wer erwachsen
 wird und Kind bleibt, ist ein Mensch! Wer weiß, ob ihr mich verstanden
 habt. Die einfachen Dinge sind so schwer begreiflich zu machen!

Also 
gut, nehmen wir etwas Schwieriges, womöglich begreift es sich leichter.
 Zum Beispiel: ,,Nehmt auf diejenigen Rücksicht, die auf euch Rücksicht 
nehmen!” Das klingt selbstverständlicher, als es ist. Und zuweilen ist
 es furchtbar schwer. In meine Klasse ging ein Junge, dessen Vater ein 
Fischgeschäft hatte. Der arme Kerl, Breuer hieß er, stank so sehr nach
 Fisch, daß uns anderen schon übel wurde, wenn er um die Ecke bog. Der
Fischgeruch hing in seinen Haaren und Kleidern, da half kein Waschen und
 Bürsten. Alles rückte von ihm weg. Es war nicht seine Schuld. Aber er 
saß, gehänselt und gemieden, ganz für sich allein, als habe er die 
Beulenpest. Er schämte sich in Grund und Boden, doch auch das half 
nichts. Noch heute, fünfundvierzig Jahre danach, wird mir flau, wenn ich
 den Namen Breuer höre. So schwer ist es manchmal, Rücksicht zu nehmen.
 Und es gelingt nicht immer. Doch man muß es stets von neuem versuchen.

„Haltet den Katheder weder für einen Thron, noch für eine Kanzel!” Der 
Lehrer sitzt nicht etwa deshalb höher, damit ihr ihn anbetet, sondern
 damit ihr einander besser sehen könnt. Der Lehrer ist kein Schulwebel 
und kein lieber Gott. Er weiß nicht alles, und er kann nicht alles
 wissen. Wenn er trotzdem allwissend tut, so seht es ihm nach, aber 
glaubt ihm nicht! Gibt er hingegen zu, daß er nicht alles weiß, dann 
liebt ihn! Denn dann verdient er eure Liebe. Und da er im übrigen nicht 
eben viel verdient, wird er sich über eure Zuneigung von Herzen freuen.
 Und noch eins: der Lehrer ist kein Zauberkünstler, sondern ein Gärtner.
 Er kann und wird euch hegen und pflegen. Wachsen müßt ihr selber!

„Seid nicht zu fleißig!” Bei diesem Ratschlag müssen die Faulen weghören.
 Er gilt nur für die Fleißigen, aber für sie ist er sehr wichtig. Das
 Leben besteht nicht nur aus Schularbeiten. Der Mensch soll lernen, nur 
die Ochsen büffeln. Ich spreche aus Erfahrung. Ich war als kleiner Junge
 auf dem besten Wege, ein Ochse zu werden. Daß ich’s, trotz aller 
Bemühungen, nicht geworden bin, wundert mich heute noch. Der Kopf ist
 nicht der einzige Körperteil. Wer das Gegenteil behauptet, lügt. Und wer
 die Lüge glaubt, wird, nachdem er alle Prüfungen mit Hochglanz bestanden 
hat, nicht sehr schön aussehen. Man muß nämlich auch springen, turnen,
 tanzen und singen können, sonst ist man, mit seinem Wasserkopf voller 
Wissen, ein Krüppel und nichts weiter.

,,Lacht die Dummen nicht aus!” Sie sind nicht aus freien Stücken dumm
 und nicht zu eurem Vergnügen. Und prügelt keinen, der kleiner und
 schwächer ist als ihr! Wem das ohne nähere Erklärung nicht einleuchtet,
 mit dem möchte ich nichts zu tun haben. Nur ein wenig warnen will ich
 ihn. Niemand ist so gescheit oder so stark, daß es nicht noch
Gescheitere und Stärkere als ihn gäbe. Er mag sich hüten. Auch er ist,
 vergleichsweise, schwach und ein rechter Dummkopf.

,,Mißtraut gelegentlich euren Schulbüchern!” Sie sind nicht auf dem
 Berge Sinai entstanden, meistens nicht einmal auf verständige Art und 
Weise, sondern aus alten Schulbüchern, die aus alten Schulbüchern 
entstanden sind, die aus alten Schulbüchern entstanden sind, die aus
 alten Schulbüchern entstanden sind. Man nennt das Tradition. Aber es ist
ganz etwas anderes. Der Krieg zum Beispiel findet heutzutage nicht mehr
 wie in Lesebuchgedichten statt, nicht mehr mit geschwungener Plempe und
 auch nicht mehr mit blitzendem Küraß und wehendem Federbusch wie bei
 Gravelotte und Mars-la-Tour. In manchen Lesebüchern hat sich das noch 
nicht herumgesprochen.

Glaubt auch den Geschichten nicht, worin der
 Mensch in einem fort gut ist und der wackre Held vierundzwanzig Stunden
am Tage tapfer. Glaubt und lernt das, bitte, nicht, sonst werdet ihr
 euch, wenn ihr später ins Leben hineintretet, außerordentlich wundern!

Und noch eins: die Zinseszinsrechnung braucht ihr auch nicht mehr zu 
lernen, obwohl sie noch auf dem Stundenplan steht. Als ich ein kleiner Junge war, mußten wir ausrechnen, wieviel Geld im Jahre 1925 aus einem
 Taler geworden sein würde, den einer unserer Ahnen Anno 1525, unter der
 Regierung Johanns des Beständigen, zur Sparkasse gebracht hätte. Es war 
eine sehr komplizierte Rechnerei. Aber sie lohnte sich. Aus dem Taler,
bewies man uns, entstünde durch Zinsen und Zinseszinsen das größte 
Vermögen der Welt! Doch dann kam die Inflation, und im Jahre 1925 war
 das größte Vermögen der Welt samt der ganzen Sparkasse keinen Taler mehr 
wert.

Aber die Zinseszinsrechnung lebte in den Rechenbüchern munter 
weiter. Dann kam die Währungsreform, und mit dem Sparen und der
 Sparkasse war es wieder Essig. Die Rechenbücher haben es wieder nicht
 gemerkt. Und so wird es Zeit, daß ihr einen Rotstift nehmt und das 
Kapitel ,Zinseszinsrechnung’ dick durchstreicht. Es ist überholt. 
Genauso wie die Attacke auf Gravelotte und der Zeppelin. Und wie noch
 manches andere.

Da sitzt ihr nun, alphabetisch oder nach der Größe geordnet, und wollt
 nach Hause gehen. Geht heim, liebe Kinder! Wenn ihr etwas nicht 
verstanden haben solltet, fragt eure Eltern! Und, liebe Eltern, wenn Sie 
etwas nicht verstanden haben sollten, fragen Sie ihre Kinder!

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